M. R. Gutmann: Building a Nazi Europe

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Titel
Building a Nazi Europe. The SS's Germanic Volunteers


Autor(en)
Gutmann, Martin R.
Erschienen
Cambridge 2018: Cambridge University Press
von
Rolf Tanner

Immer wieder erregen die nichtdeutschen Freiwilligen der Waffen-SS historiographisches Interesse. Seit den 1950er Jahren sind zu diesem Thema erste Publikationen erschienen, zunächst vorwiegend apologetischer Natur, seit den 1980er Jahren zunehmend mit wissenschaftlich-kritischer Intention. Die Dissertation von Martin R. Gutmann konzentriert sich auf eine besondere Gruppe innerhalb der nichtdeutschen Angehörigen der Waffen-SS: auf die (deutsch)schweizerischen, schwedischen und dänischen Freiwilligen, die bis in den Rang eines SS-Offiziers aufstiegen, an Junkerschulen und durch Publikationen speziell nationalsozialistisch geschult wurden und in der «Germanischen Leitstelle» der SS eine wichtige Rolle spielten. Ziel dieser Leitstelle war es, während des Krieges Freiwillige aus den – gemäss der nationalsozialistischen Ideologie rassisch wertvollen – «germanischen» Ländern zu werben. Mehr noch: Die Leitstelle sollte eine europäische Elite ausbilden, die nach dem Endsieg die «germanischen» Länder im Sinn der nationalsozialistischen «Neuen Ordnung» verwalten und regieren sollten. Chef der Leitstelle in Berlin war von 1941–1943 der Luzerner Arzt Franz Riedweg.

Gutmanns Dissertation ist in sechs Kapitel gegliedert: Das erste Kapitel untersucht die Ursprünge der SS und der Waffen-SS sowie die Entscheidung, «germanische» nichtdeutsche Freiwillige zu rekrutieren. Das zweite Kapitel versucht die weitverbreitete Auffassung zu widerlegen, nur fanatische Nazis, Kriminelle und Landknechtstypen seien in die Waffen-SS eingetreten. Kapitel drei untersucht die Motive, weshalb junge Männer aus sprichwörtlich gutem Haus in der Schweiz, Schweden und Dänemark eine Laufbahn in der Waffen-SS einer zivilen Karriere in der Heimat vorzogen. Kapitel vier und fünf analysieren die Entwicklung der Germanischen Leitstelle innerhalb der SS-Strukturen sowie die Indoktrinierung der Freiwilligen. Das letzte Kapitel geht auf das Scheitern dieses Unternehmens, die Frustration der Freiwilligen über den Dünkel und die Borniertheit ihrer deutschen Kameraden und Vorgesetzten, die wachsende Zahl von Desertionen und schliesslich noch kurz auf das Schicksal der überlebenden Freiwilligen nach 1945 ein.

Die Stärke des Buchs liegt in der genauen Analyse der Motive und des Werdegangs dieser Elite von «germanischen» Freiwilligen. Gutmann hat rund 100 Lebensläufe zusammengetragen, davon 30 sehr detaillierte (S. 14). Aufschlussreich sind Quervergleiche zwischen den Angehörigen der verschiedenen Nationen: So waren die dänischen und schwedischen Freiwilligen vor dem Krieg kaum in lokalen faschistischen Gruppen engagiert, die Schweizer aber sehr wohl. Alle Freiwilligen waren vom Nationalsozialismus zutiefst überzeugt, empfanden sich aber gleichzeitig als glühende Patrioten und sahen keinen Widerspruch zwischen ihrem Patriotismus und dem Dienst für das Dritte Reich. Auffallend ist, dass die Germanische Leitstelle von Offizieren aus Dänemark, Schweden und der Schweiz dominiert wurde, während kaum Niederländer, Norweger oder Flamen vertreten waren – aus nationalsozialistischer Sicht ja ebenfalls «Germanen». Auffällig ist auch der hohe Anteil von Akademikern. Dem Autor ist es ein wichtiges Anliegen, die Motivation der Freiwilligen in den weiteren geistesgeschichtlichen Kontext Europas der 1930er und 1940er Jahre einzubetten, weswegen er die durchaus verbreiteten Sympathien für den Nationalsozialismus, insbesondere unter konservativen Eliten, betont. Oftmals verbanden sich diese mit einer grossen Affinität für die deutsche Kultur (S. 59). Der nach dem Krieg in vielen Ländern entstandene Résistance-Mythos überblende gemäss Gutmann diese Tatsache bis heute. Der Beitritt zur Waffen-SS erscheint aus dieser Perspektive weniger abwegig und «verrückt» als aus heutiger Sicht. Allerdings überdehnt Gutmann hier seine These auch: Nicht jeder, der gewisse Sympathien für den Nationalsozialismus empfand, wurde deswegen schon gleich zum Freiwilligen. In den von den Deutschen besetzten «germanischen» Ländern traten wesentlich mehr Freiwillige in die Waffen-SS ein als das in Staaten der Fall war, die nicht unter deutscher Okkupation standen: Waren es in den Niederlanden bis zu 40‘000 und in Dänemark 6‘000 Freiwillige, meldeten sich bloss 1‘300 Schweizer und 200 Schweden zur Waffen-SS. Im Falle der Schweiz entspricht dies etwa der anderthalbfachen Zahl der Spanienkämpfer. Diese zahlenmässigen Unterschiede zwischen besetzten und nichtbesetzten Ländern lassen vermuten, dass es neben ideologischen durchaus noch andere Motive gab, weshalb junge Männer sich zum Kriegseinsatz in der SS und der Wehrmacht meldeten (z. B. äussere Lebensumstände, Beschäftigung etc.).

Etwas konstruiert wirkt Gutmanns Klassifizierung der untersuchten Länder als «neutral». Während das für Schweden und die Schweiz sicherlich zutrifft und deckungsgleich ist mit Verschonung durch den Krieg, ist diese Bezeichnung im Falle von Dänemark zumindest nach der deutschen Besetzung wenig überzeugend. Zwar behielt das Land eine eigene Regierung und eine gewisse Autonomie. Doch spätestens ab 1943 unterschied sich Dänemarks Status nicht mehr grundlegend von dem anderer besetzter «germanischer » Staaten.

Gutmanns Buch liest sich flüssig, wenn auch mit gewissen Redundanzen. Ärgerlich ist eine Reihe von kleineren faktischen Fehlern: Der Bundesrat zählt sieben, nicht sechs Mitglieder (S. 86). Jean-Marie Musy war zur Zeit der Veröffentlichung des Propagandafilms «Die Rote Pest» nicht nur Nationalrat, sondern – in diesem Zusammenhang wohl wichtiger – vor allem ehemaliger Bundesrat (S. 34). Eugen Bircher war schon vor seiner Ärztemission ein einflussreicher Politiker, nicht erst danach (S. 110). Die Sprachfehler in den deutschen Literaturverweisen hätten durch ein sorgfältiges Lektorat eliminiert werden können. Und zu guter Letzt: Diagramme, etwa zur Organisation der SS und der genauen Verortung der Germanischen Leitstelle innerhalb von ihr, hätten die Lektüre erleichtert.

Zitierweise:
Rolf Tanner: Martin R. Gutmann: Building a Nazi Europe. The SS’s Germanic Volunteers, Cambridge: Cambridge University Press, 2017,. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 3, 2019, S. 480-482.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 3, 2019, S. 480-482.

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